Aus der Turnhalle an die Weser- die Reise eines Eschestabes
Anläßlich eines Ausstellungsbesuches im Fort A in Minden entdeckte ich in einen alten, verstaubten Barren abseits des Kunsttrubels. Bescheiden, unbeleuchtet in einem Seitengang, unscheinbar und unwichtig weckte er sofort Schulbilder vom Geräteturnen im Winter, von Schmerz, Schweiß und Angst und besonderen Hilfestellungen, die heutzutage umgehend Anwälte und Schuldirektionen beschäftigen würden.
Ich berührte erst vorsichtig Holz und Metall und nach mißtrauischem Kontrollrundumblick wagte ich schließlich einen kurzen Belastungstest- und scheiterte mit 68 genauso wie mit 16!
Als Rentner und Kampfkunstschüler beschäftige ich mich heute bevorzugt mit Stocktechniken. Vom kleinen japanischen Kobutan über irische, indonesische und kontinentale Stile bis zum Langstock und schließlich dem Seniorengehstock erforsche ich das „Wesen“ und die Bedeutung des Stockes in der Geschichte und unterrichte ältere Menschen mit und ohne Handicap ehrenamtlich in Handhabung und Anwendung
Der Barrenholm als eine Variante, seine Herkunft, sein Alter und seine Erfahrungen vom Wachsen des Baumes bis zur Begleitung und Herausforderung in oft schweißtreibenden Unterrichtsstunden fehlte mir in meiner Sammlung.
Eine Freundin meiner Frau stellte mich dem Leiter der Tucholsky-Bühne vor, der zuerst ablehnte („wir brauchen den Barren als Requisite, wollen ihn golden anstreichen und als Goldbarren im Stück verwenden“)
Als ich ihm von meinem Plan erzählte, überlegte er kurz und schließlich einigten wir uns- wenn ich einen Ersatz aus Weichholz besorge bekomme ich die Holme!
Es war nicht leicht, eine Schreinerei zu finden, die einen solch „kleinen Auftrag“ annahm und schließlich traf ich einen Meister, der die Idee gut fand und dazu noch einen guten Preis machte.
Während einer Veranstaltungprobe tauschten Hr. Schynol und ich die Holme in der Werkstatt der Theaterbühne und am folgenden Wochenende nahm ich einen davon mit auf ein Stockseminar in Lindewerra.
Mit Unterstützung der Familie Geyer, Betreiber einer der ältesten Stockmanufakturen in Europa biete ich dort regelmäßig Übungen, Trainings und Einblicke in die Bedeutung eines der „ältesten Begleiter der Menschen“ an.
Der Stock hat seinen festen Platz in Sprache, Kultur, Technik und sozialen Beziehungen, er stützt, verteidigt, hält und hilft weltweit in allen Lebensbereichen- und er kann Geschichten erzählen vom ersten Benutzen vor 300000 Jahren, bis eben auch zur Geräteturnstunde mit all seinen Hoffnungen, Ängsten, Siegen und Abstürzen.
Die Lehrgangsteilnehmenden hatten alle Erfahrungen mit Barrenholmen, er wurde lächelnd, fast ehrfürchtig betastet, Erinnerungen wurden ausgetauscht und wir „sahen“die alte Esche, aus der er gefertigt war vor uns. Es war eine besondere Begegnung.
Den zweite Holm überreichte ich eine Woche später dem Fährmann der Gierfähre Veltheim/Varenholz. Zum An- und Ablegen („Abstecher“) wird für den Fährbetrieb ein langer Bootshaken benötigt und das Holz des alten Hakens war nicht mehr stabil genug. Da der Fährmann meine Beschäftigung mit Stöcken kannte, bat er mich eines Tages, nach einem geeigneten Holz zu suchen.
Da kam der Barren der Tucholsky-Bühne gerade recht!
In einer kleinen Zeremonie übergab ich die neue Hakenstange auf dem Fährboot und der Fährmann probierte sogleich ein paar Manöver. https://www.tucholsky-buehne.de/die-reise-eines-eschestabes/
Wir freuten uns beide über den neuen würdigen Platz für das alte geschichtsreiche Stück. Sicher werden sich genug Gelegenheiten ergeben, den Fahrgästen dieser fast 500 Jahre alten Weserfähre von seiner langen und aufregenden Reise aus seinem Ursprungswald bis in die Gegenwart als Hilfe zur sicheren Flußüberquerung zu erzählen.
Vielleicht wird der eine oder die andere über das Holz streichen, vielleicht ist jemand dabei, der genau diesen Holm aus seiner Jugend kennt und vielleicht „sprechen“ beide miteinander-
ganz sicher aber wird er noch lange weiter Geschichten sammeln und denjenigen erzählen, die neugierig genug sind, einem Stock zuzuhören.
Vielen Dank an den Baum, den Barrenbauern, dem Schreiner und Herrn Schynol.
Thomas Brendel